Der Flaschenkürbis
Veröffentlicht:
2016
Autorin:
Annett Dittrich
Schwimmende Kalebassen
Während seiner Reise nach Ägypten und Nubien im Jahr 1665 begegnete dem spanischen Pater Antonius Gonzales auf dem Nil ein wundersames Wasserfahrzeug: “Es war komisch anzusehen, wie ein Mann den Nil heruntergefahren kam, ganz allein, zwei kleine Ruder in den Händen. Er saß auf zwei oder drei zusammengebundenen Brettern, die sich nur knapp über dem Wasser hielten, weil unter ihnen hohle Kürbisse befestigt waren. Hätte man einen Stein geworfen, wäre dieses Boot sofort in Stücke zerborsten.“ Die zerbrechlichen bauchigen Schwimmkörper sah der Mönch unterwegs zu Tausenden auf den Feldern zum Trocknen aufgetürmt: Kalebassen – die legendären Früchte des Flaschenkürbis (Lagenaria siceraria (Mol.) Standley), einer der ältesten Nutzpflanzen der Welt.
Von Tontöpfen getragenes Floß, Ägypten, 18. Jahrhundert, Illustration aus: F. L. Norden, Travels in Egypt and Nubia, London: Davies, 1757, Taf. 32II
Kalebassen waren Pater Antonius bis dahin nur als Pilgerflaschen der Wallfahrer des Heiligen Jakobus ein Begriff. Daneben kannte er aber sicher auch Garten- und Riesenkürbisse, die man bereits seit eineinhalb Jahrhunderten zum Küchengebrauch anbaute. Seit Amerika mit den Fahrten des Christoph Kolumbus ab 1497 in das Bewusstsein der Europäer eingetreten war, trafen immer mehr Spielarten der bunten und fremdartigen Kürbisfrüchte in den europäischen Häfen ein. Denn bereits lange zuvor kultivierten die amerikanischen Ureinwohner die noch heute beliebten riesigen, runden oder auch kleineren, haken-, diskus- und turbanförmigen Kürbisse in ihren Gärten. Die Amerikafahrer begegneten beiden Kürbisformen, dem häufig nussig schmeckenden Gartenkürbis (Cucurbita pepo) mit leuchtend gelben Blüten und dem weiß blühenden Flaschenkürbis (Lagenaria siceraria) mit fahlgrünen, anfänglich oft behaarten Früchten, dessen getrocknete Gehäuse die Indianer gern zum Wasserschöpfen benutzten. In der Folge glaubte man in Europa bis ins 19. Jahrhundert, dass Flaschenkürbisse ursprünglich auf feuchten Plätzen in Amerika heimisch waren.
Die Indianersiedlung Secotan auf Roanoke Island (North Carolina) um 1590: Umgeben von Maisfeldern (H) und Tabakgärten (E) liegt am rechten Rand des Festplatzes (D) ein buntes Kürbisfeld (I), Illustration aus: Theodore de Bry, A Briefe and True Report of the New Found Land of Virginia, London (http://www.learnnc.org/lp/multimedia/6276)
Gemüse, Gefäß, Klangkörper
Doch 1563 bezeichnete Pietro Mattioli die Gartenkürbisse in seinem Kreutterbuch eindeutig als „frembde oder Indianische“ Kürbisse im Unterschied zu den „Einheimische[n] darauß man Flaschen macht“. Bald jedoch verdrängten der amerikanische Gartenkürbis (C. pepo), und in seinem Gefolge der Riesenkürbis (C. maxima) sowie der Moschuskürbis (C. moschata), deren Vorteile in der besseren Winterlagerfähigkeit und in neuartigen, von den Indianern abgeschauten Zubereitungsarten bestanden, in Europa fast vollständig den altertümlichen Flaschenkürbis. Die Kalebasse geriet zunehmend in Vergessenheit, mehr aber noch die kulinarische Verwendung ihres Fruchtfleisches. Nur in italienischen Supermärkten trifft man sie zur Erntezeit im Frühherbst noch gelegentlich als cucuzza an.
Unter den über 170 verschiedenen Gartenpflanzen in den rahmenden Girlanden der opulent ausgestalteten Villa Farnesina in Rom finden sich auch Flaschenkürbisse: hier eine längliche Cucuzza-Variante am oberen und eine Flaschenform am linken Bildrand. Deckengemälde, Merkur und Psyche, Raffaello Sanzio, 1515-1518 (http://www.wga.hu/art/r/raphael/5roma/4a/18farnes.jpg)
Anders im Mittelalter, als man den Flaschenkürbis geradezu als Wunder der Schöpfung verehrte. Im 9. Jahrhundert schrieb Walahfrid Strabo, Abt des Klosters Reichenau, in seinem Gartenlehrgedicht Hortulus: „[Er] wächst aus unscheinbarem Samenkorn hochstrebend empor, wirft mit schildförmigen Blättern riesige Schatten und entsendet Ranken aus zahlreichen Zweigen.“ Wie der Wein oder der Efeu sich um den Baum winde, dichtete Walahfrid weiter, so klettere der Flaschenkürbis kraftvoll das Holzgestell hinauf und treibe mit jedem Knoten eine Ranke, um sich gleich einem festen Faden spulenförmig um die Strebe zu wickeln. Die Früchte pries Walahfrid als ebenmäßig wie gedrechselt, die, hängend an „zierlichem, länglichem Stiel“, zwar einen dünnen Hals, darunter aber einen gewaltigen bauchigen Körper aufweisen. Getrocknet, verholzt und sorgfältig ausgeschabt dienen die flaschenförmigen Schalen als Gefäße für den Wein; junge, saftige Früchte hingegen ergeben, in Fett in der Pfanne gebacken, einen „köstlich mundenden Nachtisch“.
Ernte frischer grüner Flaschenkürbisse (Cucurbite), in der Signaturenlehre der Heilpflanzen als „kühl und feucht zweiten Grades“ eingestuft, Lombardei (Italien), um 1390, Illustration aus: Tacuinum Sanitatis, Österreichische Nationalbibliothek, Wien f. 22v (http://data.onb.ac.at/rec/AL00465227)
Unzweifelhaft ist der Flaschenkürbis der Prototyp aller flaschenförmigen Gefäße, die weltweit seit undenklichen Zeiten als Wasser- und Flüssigkeitsbehälter Verwendung fanden. Diese Eigenschaft hat dem Kürbis zu seinem modernen lateinischen Namen Lagenaria siceraria (von lat. lagena, die Flasche) verholfen, genauso wie sich in der Bezeichnung Kalebasse (von span. calabaza), im Persischen ursprünglich charbuz, schließlich das Wort für Kürbis (althochdt. churbiz) wiederfindet. Die Hohlkörper besaßen allerdings je nach Form ganz unterschiedliche Funktionen, wie die einzelnen Namensgebungen bezeugen: der Heber- oder Weinheberkürbis ist ein Langhalskürbis, der traditionell als Schöpfkelle zum Einsatz kam, aus dem Pulverhorn (engl. powder horn) entstand dagegen ein dekorativer Schießpulverbehälter. Der Kanonenkugelkürbis ließ sich in ebenmäßige Halbschalen teilen; Herkuleskeule und Schlangenkürbis lieferten in erster Linie zucchiniartige Küchengemüse, bei entsprechender Reife aber auch lange schlauch- oder sackförmige Schalen.
Eine weitere Nutzung ergab sich aus der Eigenschaft als hohler Klangkörper: Ob als ganze Frucht mit den eingeschlossenen Kernen als Rassel, als Flöte oder als mit Saiten bespannte Halbschale, weitläufig bekannt als indische Sitar, griechisch-türkische Baglama oder persische Tanbur, dürften Flaschenkürbisse zu den ältesten Musikinstrumenten der Welt zählen. In Neuguinea gehört der Flaschenkürbis hingegen traditionell zur Bekleidung der Männer ‒ nicht selten die einzige, in Form von Penistaschen. Kurzum, der Fantasie sind beim Gebrauch der Kalebassen offenbar keine Grenzen gesetzt, und nahezu jede Kultur hat ihre ganz eigene Tradition bewahrt.
Trankspende an einen durstigen, kranken Pilger mit Kürbisflasche, Detail aus: Die sieben Werke der Barmherzigkeit, Meister von Alkmaar (Niederlande), Tafelbild, 1504 (https://www.rijksmuseum.nl/en/search/objects?set=SK-A-2815#/SK-A-2815-5,5)
Hierzulande wohl am bekanntesten ist die Flasche des Pilgerflaschenkürbis mit dem eingeschnürten Hals, die wegen ihrer Ebenmäßigkeit auch Walahfrid vor Augen gehabt haben dürfte. Auch Gurde (von franz. gourde) genannt, wurde sie neben Muschel und Wanderstab zur Insignie des Heiligen Jakobus. In solchen Flaschen führten christliche Pilger geweihtes Wasser oder Wein mit sich. Zu deren Herstellung bedurfte es möglichst reifer Früchte, die noch vor dem ersten Frost in einen trockenen, luftigen Raum zur Lagerung eingebracht worden waren. Zur Aushöhlung gab das Wittenbergische Wochenblatt 1768 folgende Anleitung: „Man schneidet oben an dem Stiele ein Loch in den Kürbs, stößt alsdenn mit einem Holze die Kerne, und was darinnen befindlich ist, etwas los. Dieweil aber dadurch nicht alles Fleisch herausgebracht werden kann, so nimmt man, um ihn völlig rein zu machen, etwas groß gehacktes Bley, schüttelt dasselbe wacker in demselben herum; eben so, wie man eine andere Flasche mit Sand und Wasser zu reinigen pflegt. ... Ist der Kürbis nun rein, so übergiebt man ihn dem Böttcher zum Auspichen. ...[W]ill man aber, daß das hineingegossene Getränke einen angenehmen Geschmack erhalte, so läßt man von Nelken, Zimmet oder Muscatenblumen etwas unter das Pech mengen...“
Jona und der Flaschenkürbis
Doch was hatte den Kürbis zum Symbol der Pilger werden lassen? Im Alten Testament (Jon. 4, 6-10) verknüpfte sich mit der stark rankenden Flaschenkürbispflanze eine wichtige Legende: So wanderte Jona, nachdem er drei Tage und Nächte im Innern eines Fisches zugebracht hatte, um schließlich von diesem wieder wohlbehalten ausgespuckt zu werden, zurück zur Stadt Ninive, um dort zu predigen. Vor der Stadt ruhte er unter einer schnellwüchsigen, schattenspendenden Pflanze – eine beliebte Szene, die in frühchristlichen Mosaiken und auf Sarkophagen häufig unter einer berankten Kürbislaube dargestellt ist. Es handelte sich allerdings um eine Fehlübersetzung des hebräischen kikaion, das ursprünglich den Rhizinus (Wunderbaum) meinte, aber als Kürbis (von griech. κολοκύνθη, als Sammelbegriff für Kürbisartige) umgedeutet wurde. Die Kürbispflanze erschien den Übersetzern als ausgesprochen passend, galt sie ihnen doch als gütige Spenderin von Wohlbefinden, Kühle, Nahrung und Leben.
Jona ruht unter der Flaschenkürbislaube, hier mit länglichen Kürbissen, wie sie in der römischen Küche verwendet wurden, Bodenmosaik, Basilika von Aquileia (Italien), 4. Jahrhundert (https://it.wikipedia.org/wiki/File:Aquileia_-_Basilica_-_Riposo_Giona_e_scene_di_pesca_%28esposizione_33%29.jpg)
Im Jahr 403 beklagte sich der Kirchenvater Augustinus von Hippo sogar in einem Brief an den Heiligen Hieronymus über die Neuübersetzung der Jona-Legende aus dem Hebräischen, wegen einer Stelle, „die von dir ganz anders gegeben war, als sie sich in den Sinn und das Gedächtnis aller eingegraben hatte und als sie so viele Zeiten hindurch gesungen worden war“. In der Gemeinde von Oea (Tripolis) hatte sich beim Vorlesen durch den Bischof unter den ansässigen Griechen ein lauter Tumult erhoben, denn Hieronymus' Text erwähnte den Flaschenkürbis mit keiner Silbe. Da, wie er meinte, die Rhizinuspflanze den Meisten ohnehin unbekannt war, hatte er in seiner Übersetzung ein anderes, ähnlich klingendes Wort, nämlich das griechische κισσός (Efeu), eingefügt. Der Bischof entging nur knapp einem größeren Handgemenge, indem er den Fehler auf sich selbst nahm und sich umgehend bei seiner Gemeinde entschuldigte. Es blieb zunächst beim Flaschenkürbis.
Jona unter dem Flaschenkürbis vor dem großen Fisch, Illustration aus: Rashid al-Din, Sammlung der Chroniken, Persien, ca. 1307 (The University of Edinburgh, https://exhibitions.ed.ac.uk/record/23139?highlight=*)
Römische Rezepte
Der Abt Walahfrid listete den Flaschenkürbis in seinem Lehrgedicht als cucurbita, also unter der lateinischen Bezeichnung auf. Er erschien dort nicht zufällig, sondern fand sich in gleicher Form auch im Capitulare de villis, der Landgüterverordnung Karls des Großen, die Anfang des 9. Jahrhunderts keinen geringeren Anspruch erhob, als das Erbe des römischen Landbaus anzutreten. Von den Römern war der Flaschenkürbis über Ägypten, Italien, Frankreich schließlich auch nach Deutschland und in die Schweiz verbreitet worden. Bei Ausgrabungen in der römischen Siedlung von Biesheim-Kunheim im Elsass wurden Reste einer Frucht zusammen mit 212 Samen gefunden.
Der Flaschenkürbis bildete offenbar einen festen Bestandteil des römischen Gartenbaus, wie die Ratschläge römischer Landwirtschaftsautoren bezeugen. Palladius schrieb, der Flaschenkürbis „liebt einen fetten, feuchten, gedüngten, lockren Boden“ (Pall. IV 9,16). Deswegen empfahl Columella in trockenen Gebieten den Anbau in einem mit Stroh und Dung gefüllten Graben (Col. 11, 3.48), ebenso wie es bis in die jüngste Zeit im verwandten Gurkenanbau praktiziert worden ist. Plinius (19, 24) kannte bis zu 9 Fuß (rund 2,50 m) lange, vermutlich schlangenförmige Kürbisfrüchte, deren Wuchs sich durch geflochtene Behälter zusätzlich in fantasievolle Formen zwingen ließ. Columella erwähnt hohle Flaschenkürbisse als Schwimmhilfe für Kinder. Die besten Gefäßkürbisse kamen seiner Meinung nach aus der Stadt Alexandria; offenbar lagen an der nordafrikanischen Küste größere Anbaugebiete. Von dort stammte auch ein Kochrezept für „Flaschenkürbisse auf alexandrinische Art“, das uns Apicius überliefert: „Presse die gekochten Flaschenkürbisse aus, streue Salz darüber und gib sie in eine Pfanne. Zerstoße Pfeffer, Cumin, Koriandersamen, grüne Minze, Laserwurzel und gieße Essig dazu. Gib dazu Datteln, Pinienkerne, zerstampfe alles. Schmecke mit Honig, Essig, Fischsauce, Traubensirup und Öl ab, und übergieße die Flaschenkürbisse damit. Wenn es gekocht hat, streue Pfeffer darüber und serviere“.
Blüten, Samen und Fruchtstand der ‚Herkuleskeule‘, einer wahrscheinlich bereits den Griechen und Römern bekannten Zuchtform des Flaschenkürbis (Fotos: A. Dittrich, Illustration aus: The Vegetable Garden by Vilmorin-Andrieux, London, 1885)
Dem römischen Arzt Galen (II, 3) galt der Flaschenkürbis als kühl, aber roh ungenießbar, weswegen er durch Feuer verändert und mit scharfen, sauren, herben oder salzigen Säften zusammengebracht werden muss. So lässt er sich beispielsweise gut in Salzlake einlegen und haltbar machen. Auch junge Ranken und Kürbiskerne landeten in der Küche. Kühlende und heilende Kräfte wurden aber vor allem den Kürbisfrüchten selbst nachgesagt. Der griechische Arzt Dioskurides riet: „Der Saft des ganzen gekochten und ausgepressten Kürbis aber mit etwas Honig und Natron getrunken löst den Bauch gelinde. Wenn aber Jemand den rohen Kürbis aushöhlt, Wein hineingiesst und ihn an die Sonne setzt, diesen dann mit Wasser mischt und zu trinken gibt, so erweicht er den Bauch leicht.“
Da der Flaschenkürbis im Mittelmeerraum nicht als heimische Pflanze galt, stellte man bereits in der Antike Überlegungen zu seiner Herkunft an. Aus den gelehrten Tischgesprächen des Athenaeus ist überliefert, dass der Flaschenkürbis, vor allem längliche Formen, von manchen Griechen nach wie vor Indischer Kürbis (σικύαν Ἰνδικὴν) genannt wurde, eben weil die Samen ursprünglich aus Indien eingeführt worden waren. In Indien steht der Flaschenkürbis (Hindi lauki od. ghia) bis heute auf dem Speiseplan, wohl auch, weil in der ayurvedischen Heilkunst seine kühlenden Eigenschaften die Behandlung von Geschwüren, Diabetes und Herzkrankheiten unterstützen. Bei fast allen Kürbisgewächsen galten die gleichen Eigenschaften außerdem als heilkräftig bei Hautproblemen wie Sonnenstich, Sonnenbrand und Entzündungen.
Wasser- und Lebensspender
Der Gott Shiva, in der rechten Hand den Danda-Stab, in der linken das Kamandalu-Gefäß haltend, Kupfermünze, Stadtstaat Ujjain (Indien), ca. 2. Jh. v. Chr. (http://coinindia.com/galleries-ujjain1.html)
Im Hinduismus existieren außerdem zahlreiche Mythen um das Ritualgefäß kamandalu, ursprünglich aus einem Flaschenkürbis, einer Kokosnuss oder Holz gefertigt, welches der Aufnahme von reinem Wasser für Opfergaben oder zum rituellen Waschen der Füße vorbehalten war. So soll der Fluss Ganges, einer der sieben heiligen Flüsse, aus dem Wasser des kamandalu, den der Gott Brahma bei sich trug, entsprungen sein. Das Flaschenkürbisgefäß symbolisiert somit den Ursprung und die Fülle heiligen Wassers. Da der Gebrauch des kamandalu für eine asketische Lebensweise steht, führen indische Sadhus noch heute häufig eine metallene Variante dieses Gefäßes mit sich. Ganz ähnlich zum christlichen Pilgertum verweist das einfache Wassergefäß auf ursprüngliche Bedürfnisse und Verzicht. Da sich das Wort kamandalu (wörtl. Wasserkrug) ebenso wie die Bezeichnung alabu (Flaschenkürbis) bereits im Sanskrit finden, ist davon auszugehen, dass deren Nutzung bis weit in das erste und zweite vorchristliche Jahrtausend zurückreicht.
Archäologisch, sowohl aus Funden als auch aus Bildquellen, ist der Flaschenkürbis allerdings für die Bronzezeit schlecht belegt. Der Afrikareisende und Botanist Georg Schweinfurth zählte 1884 im Kairoer Boulak-Museum eine einzelne Kürbisflasche aus einem Grab aus der XII. Dynastie in Dra-Abu al-Naga (Theben). Diese galt lange als ein früher Beleg für den Anbau des Flaschenkürbis in Nordafrika, blieb aber eben auch der einzige. Dabei sind Kalebassen in Afrika nach wie vor äußerst beliebte Gefäße, die aufwändig verziert oder mit Muschel- und Lederriemenbesatz nicht nur in dekorative, sondern auch in besonders leichte Trageflaschen verwandelt werden.
Kürbisschnitzer, Nigeria, Postkartenmotiv, ca. 1970
Die ältesten Flaschenkürbisfunde
Trotzdem gehören Flaschenkürbisse zu den ältesten nachgewiesenen Gartenpflanzen der Welt. Unter den Funden der Ausgrabungen in der Höhle Spirit Cave in Thailand identifizierte der Archäologe Chester Gorman in den 1960er Jahren mutmaßliche Überreste des Flaschenkürbis, daneben von fünf verschiedenen Nussspezies, der chinesischen Wasserkastanie, von Bambus und einer Hülsenfrüchtlerart. Die Fundschichten datieren in das frühe Holozän (ca. 9000‒5500 v. Chr.) und wurden Jäger-Sammler-Kulturen zugesprochen. Der Biologe Charles Heiser äußerte allerdings später Zweifel an der Identifikation der Pflanzenreste wie auch an Spekulationen über frühe Domestikationsversuche. In der japanischen Jomon-Kultur finden sich ebenfalls Reste von Flaschenkürbissen, diese datieren aber unzweifelhaft erst ab 4000 v. Chr. Zusammenfunde mit Nussarten lassen hier gleichfalls auf eine intensive Sammeltätigkeit der ansässigen Wildbeuter schließen.
Sehr alte Flaschenkürbisfunde stammen vor allem aus Mesoamerika. Einer der bekanntesten Fundplätze ist Guilá Naquitz in Mexiko ‒ eine Höhle, die zwischen 8000 und 6500 v. Chr. durch Wildbeuter aufgesucht worden ist. Auch hier war der Fundzusammenhang der Schichten zwar zu einem späteren Zeitpunkt gestört worden, allerdings wurden Samen des Flaschenkürbis mehrfach direkt über die Radiokarbonmethode ab 8000 v. Chr. datiert. Die Schichten enthielten vielfältige botanische Reste, darunter Eicheln, Pinienkerne, Kaktusfrüchte, Beeren des Zürgelbaums, Hülsen des Mesquitebaums, Samen des Flaschenkürbis (L. siceraria), aber auch des Gartenkürbis (C. pepo) und von Bohnen. Außerdem fanden sich teils sehr alte Hinweise auf Chili, Amaranth, Melde und Agave sowie auf Teosinte, einen wilden Vorläufer von Mais, der auf etwa 4500 v. Chr. datiert wurde. Es ist wahrscheinlich, dass der vorgefundene Flaschenkürbis eine frühe Auslese durch gärtnerische Praxis bildet. Vermutungen zufolge sollen die ersten Kürbiszüchter Schamanen gewesen sein, welche die Schalen zu magischen Zwecken gebrauchten.
Lief dem Flaschenkürbis in Europa den Rang ab: Früheste radiokarbondatierte Funde des Gartenkürbis (Cucurbita pepo) aus der Höhle Guilá Naquitz (Mexiko): A) Reste eines deutlich gefurchten Fruchtstiels, ca. 5400 v. Chr.; B) orangefarbene Fruchtreste, ca. 5000 v. Chr.; C) Samen, ca. 7000 v. Chr. (Smith 1997, Abb. 2, DOI: 10.1126/science.276.5314.932)
In der Forschung dreht sich vieles um die Frage nach dem Ursprung der vielseitigen Nutzpflanze. Wilde Flaschenkürbisse wie beispielsweise die Wildmelone (Lagenaria sphaerica) stehen kurz vor dem Aussterben und finden sich heute nur noch äußerst selten, z.B. in Simbabwe in Afrika. Wildformen verfügen über eine dünne brüchige Schale, sodass Domestikationsanzeichen die Auslese auf Nicht-Bitterkeit ‒ allgemein ist Bitterkeit eine unerwünschte, da häufig mit Giftigkeit verbundene Eigenschaft von Kürbisgewächsen ‒ und eine zunehmende Stärke der Schale für die Brauchbarkeit als Gefäß sind. Da die fünf bekannten Wildformen entgegen der archäologischen Funde sämtlich aus dem tropischen Afrika stammen, wird folgerichtig dort der Ursprung gesucht.
Eine heftig umstrittende Frage ist, wie die Pflanze in andere, entfernte Erdteile gelangen konnte. Große Bedeutung wird dabei der Beobachtung beigemessen, dass getrocknete Früchte schwimmfähig sind und die Samen auch nach längerer Einwirkung von Salzwasser noch keimfähig bleiben. Nach dieser Version könnten afrikanische Wildkürbisfrüchte Amerika ohne menschliches Zutun schwimmend erreicht haben und ab 8000 v. Chr. dort kultiviert worden sein (L. siceraria ssp. siceraria), was spätere genetische Veränderungen gegenüber ihren afrikanischen Vorfahren erklären würde. Hierfür spricht vor allem ein Fund einer 7300 Jahre alten, extrem dünnen Flaschenkürbisrinde von der Ostküste Floridas (Windover), die schwerlich als Kultivar, sondern vielmehr als Strandgut gilt. Eine andere, nicht minder plausible Variante geht von einer Domestikation oder Veränderung der afrikanischen Wildkürbisse um 9000 v. Chr. innerhalb von Asien (L. siceraria ssp. asiatica) aus. Von hier aus könnten einwandernde Paläoindianer die Flaschenkürbisse, vielleicht zusammen mit den ersten Haushunden, über die Arktis nach Nord- und Mittelamerika gebracht haben. Nur fehlen eben beweiskräftige Funde entlang dieser Route.
Aussterbender Anbau: Indische Flaschenkürbisse mit speziellen Unterlagen, um ihnen eine gestauchte Form zum Gebrauch für Saiteninstrumente wie Tanbur oder Sitar zu verleihen (Foto: A. Bhattacharya, http://www.telegraphindia.com/1140328/jsp/howrah/story_18125335.jsp#.WFa91FKALIU)
Doch ganz gleich wie die Ausbreitung tatsächlich abgelaufen ist: Winzige Unterschiede zwischen asiatischen und amerikanischen Formen, das heißt mindestens zwei unterschiedliche Domestikationsgebiete, gelten als anerkannt, neben der Beobachtung, dass asiatische Flaschenkürbisse offenbar eine größere Rolle auf dem menschlichen Speiseplan spielen. In Asien ist der Flaschenkürbis zudem fest in der Mythologie verwurzelt. So erzählen die Miao, eine ethnische Minderheit in Südchina, die sich vermutlich bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurückverfolgen lässt, folgenden Urspungsmythos: Nach einem Streit zwischen dem Donnergott und seinem Bruder, dem Urahnen der Menschen, nimmt dieser den Donnergott gefangen. Die Kinder des Urahnen, ein Sohn und dessen Schwester, lassen den Gott jedoch unbemerkt frei und erhalten von ihm dafür das Samenkorn eines Flaschenkürbis. Als nun der Donnergott aus Rache eine Flut über die Erde schickt, um sie zu zerstören, überleben nur die beiden Geschwister, indem sie sich in dem riesigen Flaschenkürbis verstecken, der inzwischen aus dem Korn gewachsen ist. Um die Menschen neu zu erschaffen, sind die Geschwister gezwungen, einander zu heiraten. Die Frau gebiert einen Kürbis, aus dessen Teilen und Samen die Vorfahren verschiedener Stämme entstehen. Indem also Menschen durch den Flaschenkürbis Rettung vor dem Wasser fanden, wurden sie aus diesem praktisch neu erschaffen.
Hellgrüne Weinheber- und Pilgerflaschenkürbisse in einer Samenmischung für Zierkürbisse, Samentüte, Amerika, um 1940
Anders als Mythos und Pflanzengenetik betrachtet Domestikationsgeschichte in erster Linie die Aktionen von Menschen: Diese sind in der Lage, Früchte wie Samen über weite Strecken zu transportieren und dort wieder zur Aussaat bringen, auch unbewusst. Intakt, das heißt mit sämtlichen getrockneten und keimfähigen Kernen, bleibt der Kürbis eben vor allem als Schwimmkörper, so wie die des ägyptischen Bootes, das Pater Antonius 1665 auf dem Nil in Staunen versetzte. Dem Anthropologen Herman Bell gelang es knapp 300 Jahre nach dieser Begegnung, ein solches kürbisgetragenes Boot in Semna im nubischen Niltal anzukaufen und an das Marinersʼ Museum in Virginia zu überführen. Es verfügt damit über einen einzigartigen Beleg der Schwimmkraft der Flaschenkürbisse.
Annett Dittrich (2016)
Literatur
Anonymus (1768). Nachricht, vom Anbau und Nutzen der Flaschenkürbse. Wittenbergisches Wochenblatt zum Aufnehmen der Naturkunde und des ökonomischen Gewerbes, herausgegeben von J.D. Tietz, Bd. 1, 242-244.
Barker, G. (2006). The Agricultural Revolution in Prehistory: Why did Foragers become Farmers? Oxford: Oxford University Press.
Berendes, J. (1902). Des Pedanios Dioskurides aus Anazarbos Arzneimittellehre in fünf Büchern. Übersetzt und mit Erkl. vers. von J. Berendes, Stuttgart: Enke.
Cooper, J.P. (2011). Humbler Craft ‒ Rafts of the Egyptian Nile, 17th-20th Centuries AD, International Journal of Nautical Archaeology 40(2), 344-360.
de Candolle, A. (1884). Origin of cultivated plants. London: Trench.
Decker-Walters, D.S., M. Wilkins-Ellert, S.-M. Chung und J.E. Staub (2004). Discovery and genetic assessment of wild bottle gourd [Lagenaria siceraria (Mol.) Standley, Cucurbitaceae] from Zimbabwe. Economic Botany 58, 501-508.
Emmerling-Skala, A. (2002). Kürbisgewächse in Texten der Antike. In: K. Hammer, T. Gladis und M. Hethke (Hg.), Kürbis, Kiwano & Co. ‒ vom Nutzen der Vielfalt. Band 2.
Erickson, D.L., B. D. Smith, A.C. Clarke, D.H. Sandweiss und N. Tuross (2005). An Asian origin for a 10,000-year-old domesticated plant in the Americas. PNAS 102 (51), 18315–18320, DOI: 10.1073/pnas.0509279102
Ghosh, A. (2014). Music-making shells. The Telegraph Calcutta, India, 28 März 2014, Online unter: https://www.telegraphindia.com/west-bengal/music-making-shells/cid/208492
Gonzales, A. (1977). Voyage en Egypte du Père Antonius Gonzales 1665–1666. Übersetzt und herausgegeben von C. Libois. 2 Bde. Kairo: IFAO.
Heiser, C.B. (1989). Domestication of Cucurbitaceae: Cucurbita and Lagenaria. – In: D. Harris und G.C. Hillmann (Hg.): Foraging and Farming. The evolution of plant exploitation, London, 471–480.
Hirst, K. (2015). Guilá Naquitz (Mexico) - Key Evidence of Maize Domestication History. Online unter: http://archaeology.about.com/od/gterms/g/guila_naquitz.htm
Hirst, K. (2015). Bottle Gourd (Lagenaria siceraria) - Domestication History. Online unter: http://archaeology.about.com/od/bterms/qt/bottle_gourd.htm
Hoffmann, A. (1917). Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Briefe. Aus dem Lateinischen mit Benutzung der Übers. von Kranzfelder übers. von A. Hoffmann. Kempten, München : J. Kösel
Janick, J. und H.S. Paris (2006). The Cucurbit Images (1515–1518) of the Villa Farnesina, Rome. Annals of Botany, 97 (2), 165–176. http://doi.org/10.1093/aob/mcj025
Janick, J., H.S. Paris und D.C. Parrish (2007). The Cucurbits of Mediterranean Antiquity ‒ Identification of Taxa from Ancient Images and Descriptions. Annals of Botany 100, 1441–1457.
Kistler, L., Á. Montenegro, B.D. Smith, J.A. Gifford, R.E. Green, L.A. Newsom und B. Shapiro (2014). Transoceanic drift and the domestication of African bottle gourds in the Americas. PNAS 111 (8), 2937–2941, doi: 10.1073/pnas.1318678111
Köhler, J. (2002). “nos cucurbitae caput non habemus” - Der Flaschenkürbis bei Griechen und Römern. In: K. Hammer, T. Gladis und M. Hethke (Hg.), Kürbis, Kiwano & Co. - vom Nutzen der Vielfalt. Band 1: Der Katalog zur Ausstellung, 31-34.
Paris, H.S., M.-C. Daunay und J. Janick (2009). The Cucurbitaceae and Solanaceae illustrated in medieval manuscripts known as the Tacuinum Sanitatis. Annals of Botany 103, 1187–1205.
Powell, O. (2003). Galen ‒ On the Properties of Foodstuffs. Übers. und komm. von O. Powell, Cambridge: Cambridge University Press.
Prajapati, R.P., M. Kalariya, S.K. Parmar und N.R. Sheth (2010). Phytochemical and pharmacological review of Lagenaria sicereria. Journal of Ayurveda and Integrative Medicine 1(4), 266-272, doi:10.4103/0975-9476.74431
Schlumbaum, A. und P. Vandorpe (2012). A short history of Lagenaria siceraria (bottle gourd) in the Roman provinces: morphotypes and archaeogenetics. Vegetation History and Archaeobotany 21 (6), 499-509.
Schweinfurth, G. (1884). Neue Funde auf dem Gebiete der Flora des alten Ägypten. Botanische Jahrbücher 5 (2), 189-202.
Smith, B. D. (2007). Rivers of Change - Essays on Early Agriculture in Eastern North America. Tuscaloosa: The University of Alabama Press.
Strank, K.J. und J. Meurers-Balke (Hg.) (2008). „... dass man in den Gärten alle Kräuter habe ...“ ‒ Obst, Gemüse und Kräuter Karls des Großen. Mainz: Philipp von Zabern.
Smith, B. D. (1997). The Initial Domestication of Cucurbita pepo in the Americas 10,000 Years Ago, Science Magazine 276 (5314), 932-934.
Teppner, H. (2004). Notes on Lagenaria and Cucurbita (Cucurbitaceae) – Review and new contributions. Phyton Annales rei botanicae 44 (2), 245-308.
Yang, L., D. An und J. A. Turner (2008). Handbook of Chinese mythology. Oxford: Oxford University Press, 22
Titelbild: Lagenaria siceraria, Revue horticole, serié 4, [4], vol. 27: p. 61, t. 4, fig. 1, 1855, Zeichnung: A. Riocreux (http://plantillustrations.org/illustration.php?id_illustration=318754)